Sonderveröffentlichung

Driving Home for Christmas Endlich wieder die liebe Familie

An Weihnachten geht es nach Hause. Die Vorfreude ist groß, ähnlich die Vorahnungen, wie das Fest verlaufen wird. Meist wird es dann doch wie immer: Einfach schön! Eine Weihnachtsgeschichte.

30.12.2019

Von Pia Marmels

Sich auf die wesentlichen Dinge zu beschränken, darauf kommt es an ... und alles wird ungefähr so fürchter-, äh feierlich, wie in den Jahren zuvor auch. Weihnachten kann kommen, wenn man sich bei den Vorbereitungen einfach noch mal klar vor Augen führt: Der Festanlass ist Weihnachten, Zeit für Nächstenliebe. Wenn man nicht alleine feiern möchte oder muss, ist mindestens eine weitere liebenswürdige Person notwendig; besser noch eine ganze Familie – allein der unberechenbaren Überraschungen wegen. Wichtig in diesem Kontext ist auch eine Lappalie – schlicht, einfach, aber mit Entwicklungspotenzial. Man findet sie gewiss in jedem Haushalt.
   

Akt 1: Der Engel erscheint

Die heile Welt, in den Tagen vor Heiligabend, schon zum Greifen nah in Form von Adventsdekoration. Dem kleinen Weihnachtsengel – über Generationen weitervererbt – ist das rechte Flügelein locker, welches rücklings in seinem Holzrumpf steckt. Ein Klecks Holzleim würde ausreichen, die Flügelverletzung – eine Lappalie – wäre wieder heil. Holzleim im Haushalt? Fehlanzeige. Muss demnächst mal wer besorgen. Während der ganzen Adventszeit hat der kleine Engel seit jeher seinen Platz inmitten der Familie: Auf dem Esstisch, im Wohnzimmer. Immer wenn Töpfe, Terrinen und Teller zu den Mahlzeiten aufgetischt werden, muss er kurz verschwinden. Mama nimmt ihm dazu sein Flügelchen ab, „damit es beim Transport nicht herausfällt und man nicht drauftritt“. Engel und Flügel legt sie vorübergehend ins benachbarte Bücherregal: „Anschließend darf alles an den angestammten Platz.“ Bekommt Papa „das Geflügel“ in die Finger, legt er es auf dem Beistelltisch ab, wo auch schon Lichterkette und Christbaumständer für Reparaturarbeiten bereitliegen. Mutter möchte den Engel zurück auf dem Esstisch haben – Vater nennt sie deswegen eine „übertriebene Ordnungsfanatikerin“. Vater will den Engel bis zur Reparatur auf dem Beistelltischchen lassen. „Ein Weihnachtsignorant“ sei er, sagt Mutter, „mit einem unbeschreiblichen Talent, Festtagsvorbereitungen an sich vorbeiziehen zu lassen.“ Immerhin, man spricht miteinander – noch! Das Fest der Emotionen kommt in Gang. Nun müssen endlich Taten folgen: „Teelicht mit Tannenzapfen“, für Papa die perfekte Engel-Überbrückungs-Alternative auf dem Esstisch. Im nächsten Moment (keiner hat es gesehen) steht der geschundene Engel am angestammten Platz – Mama macht es möglich. Das stumme Deko-Wechsel-Dich-Spiel zieht sich.
   

Mein Bruder ist fein raus aus dem ganzen Weihnachtszirkus: Liegt mit Gipsbein im Krankenhaus. Die erste Adventswoche hat er dort schon hinter sich gebracht. Mama telefoniert inzwischen die Verwandtschaft ab, fragt auch bei den Schwiegereltern, ob sie Heiligabend mitfeiern und ganz nebenbei: „War euer Sohn schon immer so ein Weihnachtsmuffel?“ Dumm, dass Papa das mitbekommen hat, als er und meine Schwester gerade aufbrechen wollten, einen Christbaum zu kaufen. „Hast Du Holzleim auf den Einkaufszettel geschrieben“, fragt er sie. „Nicht? Ach egal, vielleicht denken wir dran.“
   

Akt 2: Der Engel ist zurück

Nun steht fest: Großtante Doris reist an, „um uns tat- und finanzkräftig an den Feiertagen zu unterstützen“ – schöne Bescherung! Tante und Onkel hingegen haben abgesagt. „Ihr Sohnemann kommt spontan aus den USA rübergeflogen – vielleicht mit der Schwiegertochter in spe“, erklärt Mama und sieht mich erwartungsvoll an. „Ein Depp, ne Tussi und zwei Familienangehörige weniger am Heiligabend, das ist sicher!“, denke ich und sage ihr, dass ich am 24. Dezember nach dem Raclette-Essen doch nicht anderweitig zum Feiern unterwegs sein werde. „Und Dein Freund, der ist bei seinen Eltern dann?“ „Nee, bei Flo.“ „Flo?“ „Frag nicht. Ein gebrochenes Flügellein ist jetzt schlimmer als ein gebrochenes Herz. Hat Papa den Holzleim mitgebracht?“
   

Lichterkette, Christbaumständer und Engel – mittlerweile wieder auf dem Beistelltisch gelandet – mussten enger zusammenrücken. Das Handmixgerät hat sich dazugesellt – keiner hat’s gesehen, als es Mutter kommentarlos dort abgelegt hat. „Die soll mal nicht meinen, dass ich das auch noch repariere – hab bis übermorgen noch viel zu viel zu tun,“ brummt Vater. Und wohlgemut über seinen urplötzlichen Einfallsreichtum und mit einem zufriedenen Touch auf sein Smartphone-Display hat sich das mit Mutters Weihnachtsgeschenk im Nu erledigt: „Santa Amazon liefert!“ – allerdings erst nach den Feiertagen. Der Paketbote wird den kleinen gräulichen Pappkarton vor unserer Haustür abstellen. Niemand wird sich fragen, ob Mama beim Auspacken des neuen Küchenhelfers Frust- oder Freudentränen in den Augen hat. Mit den Nerven ist sie eh schon völlig am Ende, auch weil ihr weihnachtlicher Rachefeldzug gegen die familiäre Festgemeinde mit einem einzigen Telefonanruf gescheitert ist: Nix mit Feiertagsflucht zu ihren Eltern in die Schweizer Berge. Seitdem Oma und Opa ein Handy besitzen, hatten sie in ihrem Feriendomizil noch nie Empfang – so haben sie wenigstens dort ihre Ruhe.
   

Finaler Akt: Der Flügel hält

Morgen ist Heiligabend, unser Fest der (scheinheiligen) Familie – alle Jahre wieder. Wäre meine Schwester Ärztin und nicht Anwältin, hätte sie uns vermutlich vorgegaukelt, sie müsste kurzfristig die Nachtschicht im Krankenhaus übernehmen. Stattdessen ein kurzes, knappes Plädoyer: „Ich hab einfach keinen Bock mehr auf Weihnachten mit selbstgemachten Problemen.“ Ehrlichkeit um die Ohren geknallt, tut manchmal weh; macht manchmal auch vernünftig. So haben wir sechs dann doch „Einen schönen Heiligabend so wie immer!“ gefeiert. Den Holzleim hab ich übrigens gefunden. Zwischen den Geschenken ... Heile Welt unterm Weihnachtsbaum.