
Es ist schon fast unglaubliche 31 Jahre her, als der SC Geislingen, damals Aufsteiger in Deutschlands seinerzeit dritthöchsten Spielklasse, die Oberliga, Fußball-Geschichte schrieb. Am 1. September 1984 war der SC um 15 Uhr nachmittags noch der Underdog, der No-Name, der es gleich in der ersten Runde des DFB-Pokals mit dem amtierenden Europa-Pokalsieger der Landesmeister – heute der Champions-League-Sieger – zu tun bekommen sollte. Dem Hamburger SV. Erfolgsaussichten: irgendwo unter null. Zwei Stunden später kannte den SC ganz Fußball-Deutschland, Wolfgang Haug (29.) und Klaus Perfetto (71.) hatten das Starensemble um Uli Stein, Felix Magath, Thomas von Heesen und Manfred Kaltz aus dem Wettbewerb geschossen, der entsetzte Blick von Trainer Ernst Happel ist legendär. Ein Sieg, der bis in die Gegenwart und wohl auch noch weit in die Zukunft strahlt – sowohl für den Sport-Club als auch für seine Protagonisten des Spätsommermärchens 1984. „Dieses Ereignis war tatsächlich so einschneidend für die ganze Region, dass selbst in meinem Betrieb die Leute heute noch darüber reden“, erinnert sich dazu Bernd „Bodo“ Breitenbach, einer der Pokalhelden: „Natürlich macht mich das stolz – auch, dass ich dabei war.“
Was aber macht die Magie dieses Ereignisses aus? Schließlich ist es heutzutage nicht selten, dass Dritt- oder gar Regionalligisten Bundesliga-Teams im Wettbewerb aus dem Sattel heben. Zuletzt hatte Drittliga-Meister Arminia Bielefeld im DFB-Pokal gleich vier Bundesligisten ausgeschaltet, gegen den fünften, den VfB Stuttgart, sollte es dann im Finale nicht mehr reichen. „Zunächst einmal war da der Fußball nicht so präsent wie heute, da läuft ja jeden Tag irgendwo etwas im TV, deshalb war das seinerzeit etwas Besonderes“, sagt der heute 60-jährige Breitenbach. Zudem sei die damalige Oberliga noch weit entfernt gewesen von einer heutigen dritten Liga mit Profis am Ball. „Das zieht sich ja mittlerweile durch vier Klassen. Die damalige Oberliga hat leistungsmäßig vielleicht ein bisschen angeklopft bei den Profi-Bundesligen, aber mehr nicht, das war wirklich ein Klassenunterschied.“ Kurzum: Die Geislinger waren samt und sonders lupenreine Amateure, hatten zu dieser Saison erst den Aufstieg aus der Verbandsliga geschafft.
„Aber dann war da an jenem Tag im ganzen Verein zu spüren, dass etwas ganz Großes passieren kann, ich weiß nicht, wie man es anders beschreiben soll“, erzählt Breitenbach. Bereits zwei Jahre davor, noch unter der im Februar 2024 verstorbenen Trainer-Legende Helmut Groß, habe es bereits mal ein Freundschaftsspiel zwischen beiden Teams gegeben, „weil Helmut Groß dasselbe System hat spielen lassen wie Ernst Happel“. Dann, zwei Jahre später unter Coach Jakob Baumann, „lag es dann in der Luft, dass wir gesagt haben: Heute ist es so weit. Das Wetter war top, 7000 Zuschauer im Stadion – an diesem Tag hat einfach alles gepasst.“ Eine Stimmung, die den Geislingern die sprichwörtlichen Flügel verlieh. „Bei den Punktspielen hatten wir immer so um die 1000 Zuschauer, da war immer mein Vater mit im Stadion, ich wusste genau, wo er steht. Und dann, als wir rauskommen, stehen 7000 Zuschauer da, ich habe meinen Vater unter all diesen Menschen nicht mehr gesehen. Diese Stimmung hat sich auf uns übertragen, das ist es auch, was sich bei uns eingebrannt hat ins Gedächtnis.“
Dabei, sagt Breitenbach, wisse man sehr wohl, dass einem damals das Spielglück auf die Füße gefallen war. Auch wenn Felix Magath hinterher jammerte, „die eigentliche Katastrophe ist, dass wir überhaupt keine Siegchance hatten“. Tatsächlich war der HSV ja schon ein gebranntes Pokal-Kind: Ziemlich genau elf Jahre und neun Monate zuvor waren die Hamburger beim VfB Eppingen, einem Club aus der Amateurliga Nordbaden, in der zweiten DFB-Pokalrunde mit 1:2 gestrauchelt. „Wenn wir uns von der damaligen Mannschaft treffen, läuft manchmal unser Spiel im Hintergrund. Wenn man das anschaut: Das ist ein Spiel auf ein Tor. Aber die Hamburger treffen halt nichts – und wir machen letztlich aus vier Kontern zwei Tore.“ Und da hatte der SC beim 1:0 noch das Glück, dass Wolfgang Haug nach einem verunglückten Doppelpass von seinem Bruder Uli mit Klaus Perfetto der Ball fast vor die Füße rollte. „Wenn es einen Fußball-Gott gibt, dann war das an diesem Tag alles so von ihm gewünscht. Für uns war das auch die Initialzündung für eine tolle Saison“, berichtet Breitenbach, der am Ende der Runde mit seinem Team auf Platz fünf stand. Auch im DFB-Pokal ging es für den württembergischen Pokalsieger weiter, in der zweiten Runde sattelte er noch eine kleine Sensation drauf, schaltete den Bundesliga-Absteiger Offenbacher Kickers mit 4:2 aus, ehe dann gegen ein damals Bundesliga-Topteam, Bayer 05 Uerdingen (heute KFC Uerdingen 05), mit 0:2 Schluss der Reise war.
Bei alldem ist und bleibt für Breitenbach ein Mann Pate des Erfolgs: Helmut Groß. „Er hat mit seinem Ziehsohn Ralf Rangnick den modernen Fußball mitgeprägt. Unser Helmut ist der Grundstein für das alles“. Sprich: das ballorientierte Verschieben. „Dort, wo der Ball ist, wird attackiert, und die, die am weitesten wegstehen, lässt man stehen, weil man die langen Bälle durch das Pressing unterbindet. Man hat da immer gesagt: 20 Minuten lang Pressing, 20 Minuten lang fallen lassen. Das war die Idee, die Philosophie, das hat in unserer Klasse keiner gespielt.“ Ernst Happel habe damit begonnen, Helmut Groß das Ganze ausgearbeitet und verfeinert, „bis zum heutigen Tag spielen alle Mannschaften so. Beim SC ist immer dieses System gespielt worden, auch bei den nachfolgenden Trainern, das hat einfach zu Geislingen gehört“.
Wobei, wie Breitenbach betont, dieser revolutionäre neue Stil vor fast 40 Jahren in den Kinderschuhen doch noch ein paar Nummern behäbiger (ab-)gelaufen sei. „Es hat sich ja alles enorm weiterentwickelt. Heute ist auch im Training ein ganz anderer Zug dahinter, da wird viel Wert auf Ausdauer und Athletik gelegt“, erzählt Breitenbach, „wir sind donnerstags immer noch weggegangen, haben was getrunken, manchmal auch etwas mehr. Da mussten wir uns dann samstags immer zusammenreißen. Wenn da einer rausgefunden hätte, dass wir da ab und zu mal zu tief ins Glas geschaut haben. . .“ Aber es sei eben eine unglaublich schöne Zeit gewesen, auch wenn die Belastung mit viermal Training die Woche, dem Spiel am Wochenende und einem Beruf nebenher groß gewesen sei. Noch heute erfülle es ihn mit Stolz, mit damals jungen 19 Jahren „ein Teil des Urknalls im modernen Fußball“ gewesen zu sein. eis