Nur noch ältere Semester aus Rot am See und Umgebung erinnern sich an einen Mann, der ein bedeutendes Kapitel in der Muswiesen-Geschichte geschrieben hat: Max Kanngießer – ein Kino-Pionier der ersten Stunde, der in Musdorf schon anno 1906 die ersten bewegten Bilder über die Leinwand flimmern ließ. Für die damaligen Besucher des Jahrmarktes dürften die Stummfilme eine absolute Sensation dargestellt haben – und manche ergriffen gar die Flucht, als sie zum ersten Mal dieses neue Medium leibhaftig erlebten. Max Kanngießer muss ein mutiger und weitblickender Mann gewesen sein: Geboren am 8. Juni 1874 in dem Dorf Osthausen im thüringischen Kreis Arnstadt und aufgewachsen im nur wenige Kilometer entfernten Ilmenau, legte er sich schon im Jahr 1896 für sündhaft teures Geld einen sogenannten „Kinematographen“ zu und ging mit diesem überaus komplizierten Apparat auf Reisen. Erst ein Jahr zuvor hatten die französischen Gebrüder Auguste und Louis Lumière ihre bahnbrechende Erfindung bei einer Vorführung in Paris vorgestellt.
Nach und nach baute Max Kanngießer seinen Schausteller-Betrieb zu einem „Elektro-Lichtspiel-Theater“ aus, mit dem er in seiner Heimat, aber auch in Hessen, Bayern und in Württemberg umjubelte Gastspiele zumeist auf Jahrmärkten bestritt. Das mobile Kino mitsamt einem 300 Besucher fassenden Theaterzelt, einer Dampfmaschine mit acht Pferdestärken, einem Orchestrion und einer „feenhaften Beleuchtung“ war per Zug unterwegs und bot „die schönste Schaustellung der Welt“, wie es auf einem Plakat hieß.
Im Jahr 1906 betrat Max Kanngießer erstmals den heiligen hohenlohischen Boden der Muswiese. Mit einer weithin hörbaren Sirene wurden die zumeist 20 Minuten dauernden Vorstellungen angekündigt, ein erster Platz schlug mit 50 Pfennig zu Buche. Das mobile Kino konnte aus einem Fundus von rund 100 Filmen schöpfen, die Max Kanngießer nicht etwa über einen Verleih bezog, sondern die Kopien käuflich erwarb – darunter Erbauliches wie eine Dokumentation der Passionsfestspiele in Oberammergau, Betrübliches wie ein Streifen über die Beerdigung des Bayernkönigs Ludwig II. oder auch Sensationelles wie der Untergang der „Titanic“. Der Überseedampfer versank im April des Jahres 1912 im Atlantik – und schon im Oktober desselben Jahres sahen die Muswiesenbesucher die bewegten Bilder über diese Katastrophe. Allein für diesen Streifen gab Max Kanngießer 900 Reichsmark aus.
Auf seinen Plakaten lockte der Schausteller das Publikum auch mit einschlägigen Referenzen. So lobte ein Freiherr und Reichsrat der Krone Bayerns: „Die Vorstellungen waren technisch vorzüglich und boten klare, nicht flimmernde Bilder. Die dargestellten Bilder waren sowohl in ihrem belehrenden als auch in ihrem unterhaltenden Teil sehr gut, sittlich einwandfrei und künstlerisch schön.“ Das moralische Gütesiegel verwendete Max Kanngießer nicht von ungefähr. Denn in den ersten Jahren seines „Kinematographen“ wetterten vor allem die Pfarrer in Thüringen von der Kanzel herab gegen dieses „Teufelszeug“. Der Schausteller selbst versicherte, dass „meine Darbietungen, gleichviel welchen Genres, streng dezent, nichts den Anstand oder die guten Sitten Verletzendes enthalten. So ist der Besuch den Familien mit den Kindern besonders zu empfehlen.“ Bei den Spätvorstellungen scheint es aber etwas freizügiger zugegangen zu sein – ausdrücklich wird auf den Plakaten vermerkt: „Abends von 10 Uhr ab nur für Erwachsene“.
Für Gefühlswallungen sorgten freilich höchstens die dramatischen Szenen in manchen Streifen. So ist von einer Vorstellung auf der Muswiese überliefert, dass die Besucher auf den vorderen Plätzen fluchtartig aus dem Kinozelt stürmten, als in einem Streifen ein Trupp Indianer auf ihren Pferden wild in Richtung auf das Publikum ritten. Nach und nach wurde das „Lichtspiel-Theater“ zu einem Stammgast auf der Muswiese. Max Kanngießers Tochter Elvira, die ihren Vater auf seinen Reisen durch die Lande begleitete, knüpfte sogar zärtliche Bande in Musdorf: Sie lernte dort den Bauernsohn Fritz Lutz aus Brettenfeld kennen.
Nach der Heirat im Jahr 1929 wohnte die Tochter in Rot am See und kümmerte sich auch um ihren kränkelnden Vater, der eine Zeitlang noch in seinem in Musdorf abgestellten Wohnwagen lebte und in seinen letzten Lebensjahren ein Haus in Musdorf bezog.
Auch seine Existenz hatten die Nationalsozialisten vernichtet: Die NS-Gaufilmstelle in Stuttgart verbot ihm bereits im Jahr 1933 die Vorführung von Filmen. Dabei hatte sich Max Kanngießer schon im Ersten Weltkrieg als Patriot gezeigt: Hinter der Front in Frankreich führte er den deutschen Soldaten seine Filme vor, sicher eine willkommene Ablenkung von dem mörderischen Grauen.
Max Kanngießer starb am 21. März 1955 und fand seine letzte Ruhe auf dem Friedhof an der Michaelskirche in Musdorf. Vor einigen Jahren wurde das Grab aufgelassen. Der Kino-Pionier hat in den ersten Ansätzen des Massenmediums Fernsehens nach dem Zweiten Weltkrieg noch erlebt, was er schon in den dreißiger Jahren vorhergesagt hatte:„Ihr werdet es noch erleben, dass die Bilder zu euch ins Haus kommen und ihr sie vom Sofa aus seht.“ Harald Zigan