Das neue Jahr beginnt in Reutlingen mit einer besonderen Tradition: Immer am ersten Donnerstag nach Dreikönig wird in der Stadt der Mutscheltag begangen, dann dreht sich alles um Mutscheln, das Reutlinger Gebäck, hergestellt aus Mürb- oder Hefeteig. Mit seinen acht Zacken und fein geflochtenen Verzierungen erinnert es in Form und Aussehen an einen Stern.
Einen sehr wohlschmeckenden Stern wohlgemerkt, um den in gemeinsamen Spielerunden gewürfelt wird. Dazu treffen sich die Reutlingerinnen und Reutlinger bei sich zu Hause, in Vereinsheimen oder Gaststätten. Und selbstverständlich werden dann die Mutscheln auch direkt verkostet, es gibt sie nämlich in kleinerer Form, während die großen und reich verzierten Exemplare derjenige als Preis mit nach Hause nehmen darf, der das meiste Würfelglück an diesem Abend für sich verbuchen konnte.
Mutscheln sind eine kulinarische Spezialität, die einzigartig ist und die ganz für Reutlingen steht. So wie auch die berühmten Reutlinger Kimmicher und der gehaltvolle Schiedwecken, eine mit Kalbfleisch gefüllte Pastete, die beim Schiedweckenessen des Reutlinger Geschichtsvereins anlässlich des Schiedweckentags am Mittwoch nach dem zweiten Fastensonntag gereicht wird. Zu haben sind die Schiedwecken inzwischen das ganze Jahr über, die Mutschel hingegen hat ihre ganz eigene Saison. Und nur um sie hat sich die liebenswerte und auch heute noch gelebte Tradition des gemeinsamen Würfelns gebildet. Mit ganz speziellen Spielen, deren ausdrucksstarke Namen einen zum Schmunzeln bringen.
„Nackets Luisle“ etwa heißt eines der Spiele, es gibt aber auch den „Langen Entenschiss“, die „Einsame Filzlaus“ oder das „Mauseloch“. Und bei „Der Wächter bläst vom Turme“ würfelt man gar mit Unterstützung von Atemluft, indem einer der benutzten Würfel vom umgedrehten Würfelbecher heruntergepustet wird.
Die Reutlinger Tradition des Mutschelns soll übrigens zurückreichen bis ins 13. Jahrhundert. Der Donnerstag nach dem Dreikönigstag - in diesem Jahr also der Donnerstag, 11. Januar, - ist seitdem ein regelrechter Feiertag in der Stadt, ja, manche sprechen gar vom Reutlinger „Nationalfeiertag“, wo überall in den Gaststätten der nicht ganz ernst gemeinte Wettstreit um die große Mutschel entbrennt. Das war auch schon vor Jahrhunderten so, allerdings versammelte man sich früher meist direkt in den Backstuben der Bäcker, die die Mutscheln in Handarbeit herstellten. Viel Handarbeit ist auch heute noch nötig, bis die Mutscheln in den Auslagen der Bäckereien zu bewundern sind.
Und wie isst man nun das Reutlinger Traditionsgebäck am besten? Puristen schwören auf nichts als ein wenig Butter als Beigabe. Andere lieben Mutscheln mit einem Stück Käse oder einem Tellerchen Wurstsalat zum Glas Wein oder Bier, wieder andere genießen sie zum Frühstück mit Honig oder Marmelade.
mcj