Der harte Kern von Heller Wohnen kennt es seit nunmehr einem vollen Jahrzehnt. Die Gruppe mit dem bildhaften Namen Trauben und Rosinen steht noch am Anfang ihres ambitionierten Projekts: Mehrgenerationenwohnen heißt das etwas sperrige Zauberwort, das in einer auf Überalterung zusteuernden Gesellschaft die Lösung vieler Probleme zu versprechen scheint.
Bisher waren die farbenfrohen Gebäude von Heller Wohnen auf dem Katzenkopf die ersten und einzigen in Hall, in denen das bewusste Miteinander von Jung und Alt gelebt wird. ,,Wir haben von Anfang an an diesen Erfahrungsschatz angedockt", sagt Sina Wolbert (36), Mitbegründerin von Trauben und Rosinen beim gemeinsamen Gespräch. ,,Wir haben gefragt, was kann schiefgehen, worauf können wir uns freuen, welche Probleme können auftauchen, wie geht ihr damit um und was verändert sich."
Keine heile Welt
Eine heile Welt sei ihre Gemeinschaft nicht, geben Sabine Grauert (80) und Heidrun Schaumann (77) offen zu. Aber unbedingt empfehlenswert. Jede Altersgruppe habe etwas davon. Wer in jungen Jahren bis über beide Ohren im Beruf steckt, sei heilfroh, wenn jemand mal nach den Kindern gucke, einkaufe oder koche. Dafür bekämen die Älteren zum Beispiel Nachhilfe auf dem Computer. Doch es bleibt nicht bei diesen einfachen Dingen. ,,Wir haben schon einen Mitbewohner in seiner Demenz begleitet", berichtet Heidrun Schaumann. ,,Wir haben Spaziergänge oder Sport mit ihm gemacht, um seine Frau zu entlasten. Erst als es in der Privatwohnung wirklich nicht mehr ging, kam er in ein nahegelegenes Pflegeheim. Wir sind dann regelmäßig zu ihm rübergegangen. Die Gemeinschaft blieb ihm bis zum Schluss erhalten."
Sabine Grauert ist durch eine Kinderlähmung gehbehindert. Woran sie ein Leben lang gewohnt gewesen sei, bedeute mit zunehmendem Alter wachsende Einschränkungen. "Jetzt merke ich, wie selbstverständlich ich bei Heller Wohnen Hilfe bekomme, und das gleich von vielen Leuten", sagt sie dankbar. Diese Hilfe nehme sie nicht im Sinne einer Abhängigkeit wahr: „Es gehört einfach zu den vielfältigen Formen der Begegnung in unserer Gemeinschaft." In den Gebäuden, deren gesamte Konzeption und Architektur auf Begegnung ausgerichtet ist, wohnen aktuell 41 Menschen. Der Älteste ist 91, die Jüngste 13 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt derzeit bei 48,6. Es gibt mehr Singles als Familien und mehr Frauen als Männer.
Elf Erwachsene und fünf Kinder gehören bislang zu Trauben und Rosinen, bis zu 30 Personen sollen es werden. Denn noch sind Wohnungen zu vergeben in dem Haus, das derzeit im Hessentaler Sonnenrain gebaut wird. Wenn sie unterwegs sei, um für das Projekt zu werben, bekomme sie oft zu hören ,,Das klingt interessant, ist aber nichts für mich", erzählt Sina Wolpert. Heidrun Scheuermann hat seinerzeit Ähnliches erlebt: „Da sagten Leute, die älter waren als wir, das ist ja nett, aber jetzt noch zu früh für uns. Heute bekommen wir ständig Anfragen von Senioren, die bei uns einziehen wollen. Erst jetzt wird ihnen bewusst, was sich im Alter auf einmal alles dreht." Wohnungen sind auf dem Katzenkopf indes schon lange nicht mehr frei, und selbst wenn sich dies ändert, würden keine Bewohner über 60 aufgenommen. Der Grund ist klar: ,,Wir brauchen Nachwuchs für unser Haus."
Kommt es in der räumlichen Nähe häufig zu Konflikten? ,,Wir sind hier nicht die Insel der Seligen“, sagt Grauert. „Wir Schaumann. sind die Insel der Zufriedenen", ergänzt ,,Natürlich knirscht es manchmal. Dann heißt es halt, jetzt gucken wir mal danach. Und das ist viel einfacher, als wenn man nur im engen Familienverbund wäre. Wir haben hier mehr Möglichkeiten und Ansprechpartner." Den Trauben und Rosinen geht das nicht anders. ,,Wir merken, dass es Ungleichheiten in der Gleichheit gibt, die wir uns gerne einreden", stellt Wolbert fest. ,,Etwa bei der Frage: Wer arbeitet eigentlich wie viel für das Projekt? Da müssen wir immer wieder ins Gespräch gehen und bisher sind wir immer gut rausgekommen." An sozialer Kompetenz mangelt es nicht. Die häufigsten Berufe in beiden Gruppen sind Erzieherin, Lehrer, Krankenschwester. Sabine Grauert ist Diplompsychologin. Sie leitete bis zu ihrem Ruhestand das Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Waldenburg.
Heller Wohnen dient nicht nur den Haller Newcomern als hilfreiches Vorbild, sondern demnächst sogar den Amerikanern: Weil das Mehrgenerationenwohnhaus 2009 einen Förderpreis vom Bund erhielt, wurde jetzt der German Marshall Fund darauf aufmerksam. Die US-Stiftung, so erklärt Schaumann, erforsche, ob das Konzept auch in den Staaten umsetzbar wäre. Im Dezember werde darum eine Mitbewohnerin nach Washington D.C. reisen und auftragsgemäß einen Vortrag darüber halten, worin die ,,Magie" der großen Wohngemeinschaft auf den Höhen von Hall liegt. Beatrice Schnelle