Eine schöne, große Wohnung mitten in der Fußgängerzone von Schwäbisch Hall. Das geräumige Wohn-/Esszimmer erhält durch großformatige Bilder Atmosphäre. Fotos von Bäumen sind dabei, aber auch ein abstraktes Gemälde, ein Original. „Das ist eine Dauerleihgabe von Tausendgrün“, erklärt Alexander Schulz. Er ist Heilerziehungspfleger (Hep), und Tausendgrün ist eine Künstlergruppe von geistig behinderten Malern.
In der schönen, großen Wohnung in Hall ist seit vier Jahren eine WG zu Hause. Die vier Bewohner halten Ordnung, nicht nur in Küche und Bad, sondern auch in ihren liebevoll eingerichteten Zimmern. Dabei erhalten sie Hilfe – und auch bei vielen anderen Verrichtungen des täglichen Lebens. Denn alle vier haben eine geistige Behinderung, dazu kommen zum Teil auch körperliche Einschränkungen. Das Zusammenleben ist familiärer und harmonischer als in mancher anderen WG. Man nimmt Anteil am Leben der Mitbewohner, kennt sich seit vielen Jahren aus der Lebenswerkstatt im Haller Aschenhausweg und ist sich wohlgesonnen.
Heute ist WG-Rat. Da wird besprochen, wer am Wochenende zu den Eltern fährt, was eingekauft werden muss, was am Samstag und Sonntag gekocht werden soll. An Arbeitstagen essen alle Bewohner an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz. Für drei sind das die Werkstätten am Aschenhausweg, nur Alexander Kary ist montags bis donnerstags in der Mensa des Schulzentrums West beschäftigt. An den Freitagen arbeitet auch er in der Werkstatt. Den Weg zur Arbeit nehmen die vier Bewohner mit dem Linienbus oder mit dem E-Bike.
Haushaltskasse wird gefüllt
Im WG-Rat wird auch die Haushaltskasse gefüllt. Wer am Wochenende in der Innenstadt-Wohnung bleibt, muss 20 Euro in die WG-Kasse einzahlen, wer bei seiner Familie ist (und dort isst), zahlt 10 Euro ein. Katharina Bohler muss ein bisschen überlegen, wie viele von ihren vier für diesen Zweck vorbereiteten Fünf-Euro-Scheinen sie nun hergeben muss, wenn sie zwar am Wochenende da ist, aber nur am Samstag kochen will. Nach einer kurzen Beratung am Tisch gibt sie drei der vier Scheine ab. Am Sonntag wird sie sich einfach an einem Imbissstand etwas holen, „dann brauche ich niemanden“, also keine Betreuungsperson. Die 32-Jährige weiß auch schon, was sie am Samstag kochen will: Pfannkuchen. Und was soll es dazu geben? Käse, ist sie sich schnell sicher. Nach mehrfachem Nachfragen stellt sich heraus, dass auch noch Tomaten, Mais und Schinken gut dazu passen könnten. Das alles kommt auf die Einkaufsliste.
Katharina Bohler und die 27-jährige Caroline Kunz sind bei dieser Besprechung am aktivsten. Sie haben den Überblick, ob Toilettenpapier und Putzmittel gebraucht werden. Caroline Kunz erzählt, dass sie am Vortag gleich vier Hosen eingekauft hat. Dabei wurde sie von einer Person begleitet. Alexander Kary kämpft mit seiner Hörhilfe. Wer sich mit dem agilen, kommunikationsfreudigen 30-Jährigen unterhalten will, muss deutlich in ein Mikrofon sprechen. Für ihn sind Ohrenarzttermine zurzeit das wichtigste. Und Alexander Teschow (35) ist ein stiller, zufrieden wirkender Typ.
Die vier leben offenbar gerne zusammen. Sie haben sich ihre Wohnung selbst ausgesucht und die Zimmerverteilung untereinander geregelt. Aber erst einmal wurden sie vor eine große Geduldsprobe gestellt: „Es hat ewig gedauert, bis die Wohnung fertig war.“ Vorher waren dort Büros, der Umbau hat sich gezogen. Der Einzug war für September 2017 geplant, erst im März 2018 konnten tatsächlich Kisten geschleppt und Möbel positioniert werden. Drei der Bewohner sind von den Eltern in die erste eigene Wohnung gezogen, Caroline Kunz hat vorher im Sonnenhof gewohnt. Sich selbst zu organisieren, sich auf die anderen einzustellen, Absprachen zu treffen, das war für alle eine große Umstellung, und sie sind stolz, dass sie es so gut hinbekommen haben.
WG als neue Möglichkeit
„Wir sind sehr froh, dass wir heute die Möglichkeit solcher ,anbieterveranstworteter ambulanten Wohngemeinschaften‘ haben“, sagt Stephanie Brümmer, die seit Anfang November Leiterin des Bereichs ambulant betreutes Wohnen der Offenen Hilfen ist. Denn früher hatten Menschen, die in einer Sonnenhof-Außengruppe oder in der Familie wohnen, höchstens Anspruch auf drei Stunden Betreuung pro Woche. Wer mehr brauchte, musste stationär untergebracht werden. Nun gibt es die „Flex-WG“: Die Betreuung kann nach momentanem Bedarf häufiger angeboten werden. „Am Anfang, als die WG sich gegründet hat, waren wir fast täglich vor Ort. Mit der Zeit gibt es Routinen, jetzt kommen wir in manchen Wochen nur noch am Wochenende“, erklärt Brümmer – und zum WG-Rat am Mittwoch. Dort wird auch besprochen, wer regelmäßige Aufgaben erledigt („jeder hat zwei bis drei WG-Ämter“, erklärt Katharina Bohler) oder sich für besondere Vorkommnisse verantwortlich fühlt (der neue Vermieter will die Wohnung besichtigen). Es ist ein normaler Alltag, der in dieser WG organisiert werden muss, gelebte und gelungene Inklusion. Monika Everling
Die Offenen Hilfen betreuen 68 Menschen beim Wohnen
Sechs Flex-WGs, die vom ambulant betreuten Wohnen der Offenen Hilfen unterstützt werden, gibt es derzeit im Schwäbisch Haller Stadtgebiet. 22 Menschen mit Behinderungen leben dort. Diese Wohnform ist wegen einer Gesetzesänderung im Betreuungsrecht relativ neu und zurzeit noch am Wachsen. Weitere 46 Klienten des ambulant betreuten Wohnens leben alleine oder mit einem Partner/einer Partnerin zusammen. evl