Es gibt Dinge, die müssen nicht erklärt werden. Am dritten Montag im September eine jeden Jahres ist Volksfest. Der feste Eckpunkt im Leben eines aufrechten Crailsheimers beginnt am Freitag mit Eröffnung und der Eröffnung der Rummels um 14 Uhr und endet am Montag, Schlag 24 Uhr. Dazwischen ist Umzug, Feuerwerk, Tagwache, Markt, Bierzelt, Brathähnchen, Feuerwurst, Schießbude, Achterbahn, Looder und Riesenrad. Diesen Gang der Dinge hat ein richtiger „Horaff“ allerspätestens verinnerlicht, wenn er die Nase über die Tischkante bringt und Oma und Opa den Nachwuchs mit „Volksfestgeld“ gebrannten Mandeln und Softeis versorgen.
Zu erklären gibt es da wenig, weil sich Dinge nur wenig ändern. Denn später, wenn Dirndl und Lederhose zur Volksfestuniform gehören, ändern sich bestenfalls die direkten Anlaufstellen (mehr Festzelt, mehr Biergarten), die Formen der Nahrungsaufnahme (mehr flüssig) und Gepflogenheiten (mehr Übernachtungen in der Fremde). Und so trägt sich die überlieferte Szene seit Generation in ähnlicher Form in jedem Crailsheimer Haushalt ab. Als mich vor Jahrzehnten feines Glockenspiel der Bürgerwache zur frühmorgendlichen Tagwache nach durchlebter Festnacht ins wahre Leben zurückholte, hatte ich doch sehr damit zu tun, mich daran zu erinnern, welch holdes Wesen da so wohlig neben mir kuschelte. Als ich wenig später die reichlich rau-belegte Stimme, und doch etwas eigentümliche geschmackliche Gefühlsnote aus Magenbrot, Bratwurst, Bier und Obstlern mit viel Tafelwasser ins Gleichgewicht und mich selbst Umzuggassenfertig, dann standesgemäß ordentlich-schmusend von meiner weiblich-jugendhaften Volksfestbekanntschaft verabschiedete, hörte ich, wie meine Mutter mit einigem Nachdruck meinen Vater über die Kaffeetassen hinweg dazu aufforderte, dem ihrer Ansicht doch noch etwa frühreifen Nachwuchs zwecks gebührenden Verhalten, zwischengeschlechtlichem Benimm und allgemein geordneten Verhältnissen doch einmal „verschärft ins Gewissen“ zu reden. „Es ist Volksfest“, entgegnete mein Vater ruhig und hob noch nicht einmal den Kopf von der frühmorgendlichen Zeitungslektüre. Drei Worte nur - und doch war alles gesagt. Mein Vater - ohnehin ein stiller Mensch - wusste um die Dinge, die kein Crailsheimer einem anderen mit dieser landsmannschaftlichen Feldpostnummer erklären muss. Es ist der drit-te Montag im September und ab Freitag ist Fest. Warum ich das erzähle? Ganz einfach, weil genau so die Crailsheimer Zeitrechnung funktioniert. Dass wir mit den Jahren in der Region in Summedeutliche bunter und auch internationaler ausgerichtet sind, ist ein Segen, doch mit jedem dazugekommenen verwischen sich manchmal doch auch die grundsätzlichen Maßstäbe. So ist da und dort gelegentlich von der „fünften Jahreszeit“ die Rede. Und an der Stelle muss dann Einhalt geboten werden. Crailsheim ist weder Köln noch Freiburg. Wirfeiern weder Karneval noch Fasnacht. So sicher wie der Mount Everest zum Himalaya gehört, ist Volksfest am dritten Montag im September und geht am Freitag los. Da liegen die ersten Nebel über der Jagst und deshalb ist auch Herbst. Das ist die dritte von vier Jahreszeiten. Zur leichteren Orientierung und zielgerichteten Konzentration auf die Tage, an denen wir Crailsheimer das Leben nun wirklich von der lockeren Seite nehmen, gibt es für den Horaff an sich von diesen nur zwei. In Worten: zwei. Nämlich: Es ist vor dem Volksfest und es ist Volksfest. Zur leichteren Aufnahme für alle, deren Wiege nicht in der weltschönsten Jagstmetropole stand: Volksfest ist immer am dritten Montag im September und beginnt am Freitag. Da ist Volksfest. Vom Dienstag im September diesen Jahres bis zum Montag im September des kommenden Jahres, an dem das Fest am Freitag beginnt, ist vor dem Volksfest. Es gibt kein danach oder drumherum - sondern nur „Fest“ und „vor dem Fest“. Falls es Ihnen mit der Erklärerei doch auch umständlich zu ist, halten Sie es doch einfach mit meinem Vater. Der Mann war gebürtiger Horaff und deshalb wusste er: Es ist Volksfest. Mehr ist nicht zu sagen. Heribert Lohr