Sonderveröffentlichung

Lebenplus Die Bonus-Jahre und das Phantom-Selbst

Ruhestand: „Wir können heute davon ausgehen, dass wir sehr alt werden.“ Diese These stellt die Gerontologin Ulla Reyle in ihrem Vortrag in Untermünkheim auf, und rät, die nachberufliche Zeit rechtzeitig zu planen.

Karl-Heinz Pastoors, Vorsitzender des Kreisseniorenrates, und Gerontologin Ulla Reyle schmökern im Gemeindehaus in Untermünkheim in einem Buch über das Alter. Foto: Claudia Linz

11.12.2019

Von Claudia LinzHaben Sie schon einmal vom Phantom-Selbst gehört?“, fragt Ulla Reyle in die Runde. Vorzugsweise begegne man ihm auf Klassentreffen, macht die Gerontologin neugierig. Denn während man frühere Schulkameraden, die man lange nicht gesehen hat, als „ziemlich alt“ wahrnehme, fühle man sich selbst jung. Psychologische Studien belegen das: „Ältere Menschen fühlen sich im Schnitt zehn Jahre jünger als es ihrem biologischen Alter entspricht.“ Die Selbstwahrnehmung trügt, doch im Alterungsprozess hat sich in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich auch etwas geändert. „Wir altern heute verjüngt“, fährt die Alterswissenschaftlerin mit eigener Praxis in Tübingen fort. 70 sei das neue 60. Das liege an der besseren Ernährung, der medizinischen Versorgung und an der Bildung. „Aber auch daran, dass wir heute körperlich weniger hart arbeiten als unsere Vorfahren“, erläutert sie. „Wenn es gut läuft, bekommen wir vom Renteneintritt bis zum Tod 30 Lebensjahre geschenkt.“ Das sei mehr als Kindheit und Jugend zusammen – und diese Zeit will gestaltet und rechtzeitig geplant werden.

Viele Anregungen beinhaltete der unterhaltsame Vortrag. Bei Paaren, sagt sie, habe der Berufsalltag Nähe und Distanz geregelt. Keine gute Idee sei es, als Rentner nun 24 Stunden am Tag miteinander verbringen zu wollen. „Lasst Raum zwischen euch für eigene Interessen“, empfiehlt sie. Auch Zuständigkeiten müssten neu geregelt werden. „Denn wenn der Mann nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit ins Reich der Frau zurückkehrt, sind alle Rollen bereits besetzt.“ Auch sei es ratsam, soziale Kontakte zu intensivieren oder aufzubauen. „Männer entdecken im Ruhestand oft, dass sie keine Freunde hatten, sondern Kollegen.“

„Ältere Menschen fühlen sich im Schnitt zehn Jahre jünger als es ihrem Alter entspricht.“

Ulla Reyle Gerontologin

Grundsätzlich gehe es darum, die mühsamen Jahre, in denen man Unterstützung benötigt, so weit wie möglich nach hinten zu drängen. Das habe viel mit Selbstfürsorge zu tun und vor allem Frauen müssten das oft noch lernen, hat die Tübingerin erfahren. „Sie leiten ihre eigene Zufriedenheit oft davon ab, dass es ihren Kindern gut geht.“ Dabei könne man Kindern am Telefon keine größere Freude machen, als zu sagen, alles sei bestens.

„Wenn der Mann ins Reich der Frau zurückkehrt, sind alle Rollen bereits besetzt.“

Ulla Reyle Gerontologin

Trotzdem solle man nicht vergessen festzulegen, wie man leben möchte, wenn man zum Beispiel bei Demenz einmal Unterstützung benötigt, und das mit den Kindern auch besprechen. „Ich habe schon viele Familien erlebt, in denen die Beziehung an den Herausforderungen, die die Pflege mit sich brachte, zerbrochen ist.“

Die guten Ratschläge der Hundertjährigen

Alter: Teilhabe am Leben und ein Gefühl der Dankbarkeit machen glücklich.

Von Claudia Linz  

Rund 17 000 Menschen werden heute in Deutschland 100 Jahre und älter. 200 dieser Hochbetagten habe man in einer Studie befragt, was ihr Leben glücklich mache. Herausgekommen seien drei Dinge, erläutert Gerontologin Ulla Reyle in ihrem Vortrag „Die Segel neu setzen“ im Gemeindehaus in Untermünkheim: Teilhabe am Leben und die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten einzubringen, das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen und Dankbarkeit.

Schon mit 40 Jahren begännen die Sinnesorgane, sich langsam zur äußeren Welt hin zu schließen, formuliert es Ulla Reyle. „Die Altersweitsicht setzt ein und wir benutzen eine Lesebrille.“ Ganz anders sei das, wenn man schlecht hört. Die Abneigung gegen Hörgeräte sei groß. „Doch wer schlecht hört, verliert den Kontakt zu anderen Menschen und sinkt immer tiefer in einen Raum der Stille.“ Außerdem führe schlechtes Gehör oft zu einer Menge Ärger. „Viele Senioren schämen sich, zuzugeben, dass sie schlecht hören, und tun so, als hätten sie alles verstanden.“

Die gesellschaftliche Teilhabe außerhalb des Berufes lässt sich laut Ulla Reyle auf verschiedene Weise verwirklichen. Eine Möglichkeit sei, seine eigenen Interessen mit anderen zu teilen und so ein Gefühl der Verbundenheit zu erleben. Als Beispiele nennt sie die Gründung eines Literaturkreises, wann man gern liest, oder die Mitgliedschaft in einer Wandergruppe. Eine weitere Möglichkeit sei, eigene Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen, zum Beispiel im Ehrenamt. Zur Teilhabe gehöre aber auch, Hilfe von anderen, etwa von Nachbarn im Quartier, annehmen zu können. „Unsere Kinder leben nun einmal nicht in unserem Vorgarten. Sie befinden sich in der Rush Hour des Lebens. Apropos Wohnen: Im Ruhestand stellt sich laut Ulla Reyle auch die Frage, wie man im Alter wohnen möchte. Ist es zum Beispiel möglich, das Haus barrierefrei umzubauen? „Treppen halten uns einerseits fit, können aber irgendwann zum unüberwindbaren Hindernis werden“, weiß die Gerontologin. Soll das eigene Haus verkauft werden zugunsten einer kleineren Wohnung auf einer Etage? „Große Einfamilienhäuser, in denen verwitwete Frauen alleine leben, können zu schrecklichen Orten der Einsamkeit werden“, weiß Ulla Reyle. Andererseits bedürfe es der Trauerarbeit, wenn man sich von den eigenen vier Wänden trennen will und „irgendwann hat man nicht mehr die Kraft dazu“, gibt sie zu bedenken.

„Wer 100 Jahre alt wird, kann auf viele Dinge dankbar zurück blicken, auch, wenn manches vielleicht nicht optimal lief.“ Deshalb fordert die Referentin die Besucher in Untermünkheim dazu auf, ihr Leben vom Ende aus zu betrachten. „Wer zum Beispiel im falschen Elternhaus groß geworden oder den falschen Beruf ergriffen hat, erkennt vielleicht, was ihm das an Fähigkeiten beschert hat.“

Neben der Dankbarkeit als Lebensgefühl hebt sie als positive Eigenschaft auch den weichen Umgang mit Veränderungen hervor. „Starre Bäume brechen unter der Schneelast, biegsame richten sich wieder auf“, nennt sie ein Beispiel. „Wer lernt, Veränderungen hinzunehmen, gut für sich selbst sorgt und sich am Leben freut, wird leichter 100 Jahre alt als jemand, der mit Veränderungen hadert.“

Am Schluss macht Ulla Reyle Mut auf den kommenden Lebensabschnitt. „Die Segel neu setzen“ lautete der Titel des Vortrages. „Tun Sie das“, sagt sie, gestalten Sie die geschenkten Jahre und sehen Sie ihnen mit Freude und Neugier entgegen.“