Unscheinbar liegt Musdorf in der Landschaft. Kein Mensch, der unbedarft vorbeikommt, käme auf die Idee, sich auf geschichtsträchtigem Boden zu befinden. Nun, der erste Eindruck täuscht halt gewaltig. Denn natürlich ist Musdorf ein ganz besonderes Dorf, die „Heimat der Muswiese". Hier schlagen Hohenloher Herzen höher - und zwar nicht erst seit gestern, sondern seit mindestens 588 Jahren. Wahrscheinlich sogar viel länger.
Immer, seit es die Muswiese gibt, gab es die Händler, die sich an der Kreuzung zweier uralter Handelsstraßen trafen und ihre Waren feilboten. Und immer gab es die Wirtschaften, in denen der arbeitssame Alltag auf dem Lande von alters her eine ausschweifende Unterbrechung fand. Die Einwohner Musdorfs haben nämlich ,,seit undenklichen Zeiten", so schrieb der Oberumgelder Walz im Jahr 1811, ein Schankrecht für die Dauer der Muswiese. Die Namen der Wirte wechselten, das Recht blieb bestehen. Bis heute. Wer von Kleinkindesbeinen an im Oktober durch Musdorf geschoben, getragen oder auch mal gezerrt wurde, der klammert sich lebenslang an die Konstanten des Jahrmarkts. Man will ja nicht, dass sich etwas ändert. Leicht übersieht man dabei, dass die Muswiese bei aller Tradition immer einem Wandel unterzogen war.
Dass schon am Wochenende gefeiert wird, ist beispielsweise eine Neuerung der Nachkriegszeit. Dass der Viehmarkt irgendwann einmal kein wichtiger Wirtschaftsfaktor mehr sein würde, hätten sich frühere Muswiesengenerationen nicht vorstellen können. Und Auswüchse der Technisierung wie PS-protzende Bulldogs, blinkende Boxautos oder das gemächlich rotierende Riesenrad sind Dinge, die historisch betrachtet in den allermeisten Muswiesen-Jahren noch nicht einmal als realistische Zukunftsvisionen durchgegangen wären.
Im 20. Jahrhundert hat sich das Gesicht der Muswiese also sehr verändert - und auch Musdorf ist nicht geblieben, wie es war. Von sieben stolzen Bauernhäusern, die einmal die Durchgangsstraße säumten (eine Überblickszeichnung ist am Gemeindestand im Gewerbezelt zu sehen), sind die größten nach und nach abgerissen worden. Manche Familien siedelten aus, andere blieben im Ortskern und bauten neu.
In gemütlichen Stuben
Heute trifft man sich in großen Maschinenhallen, ursprünglich hatten die Bauernwirte ihre Gäste in den heimischen Stuben empfangen. Herbert Schüßler beschrieb das in seinem Buch „Die Muswiese" wie folgt: „Die Gemütlichkeit alter, niedriger Bauernstuben empfing den Gast, die Möbel und Betten waren ausgeräumt und in Dachkammern gestellt worden. Lange Tische und Bänke bildeten über die Festwoche die Einrichtung, hier saß man dann gemütlich unter den Hochzeits- und Militärbildern des Bauern und unter dem großen Wandspiegel, der bis zu den fünfziger Jahren in keiner Stube fehlen durfte." Keine Wirtschaft firmiert seit so langer Zeit und ohne Unterbrechung unter demselben Namen wie die der Familie Uhl: seit 100 Jahren. Gerhard Uhl, Jahrgang 1957, erinnert sich noch gut an jene Zeiten, als sein Elternhaus zur Wirtschaft wurde. „Unten war der Stall: eine Seite Saustall, eine Seite Viehstall", erzählt er. „Dazwischen ging die Treppe nach oben." Das Haus war 1788 so errichtet worden, dass es im ersten Stock muswiesentauglich war. Es gab also nur die nötigsten tragenden Wände, ansonsten waren die Zimmer mit ein- und ausbaubaren Holzelemene ten voneinander abgetrennt. Legendär sind der blinde Musiker Schneck und seine Schwägerin, die ,,flotte Olga", die in den Stuben für Stimmung sorgten. Legendär sind auch Geschichten wie jene vom Gast, der in den Misthaufen fiel und vom Hausmetzger abgespritzt wurde, oder jene vom Hammel, der beim Schlachten durchging und in Brettenfeld wieder eingefangen wurde.
Gerhard Uhl wird nicht nostalgisch, wenn er von damals erzählt. Er weiß nur zu gut, dass das alte Gebäude viele Nachteile hatte: Als Kind musste er in kalten Nächten mit Wärmflasche ins Bett, am Fenster bildeten sich Eisblumen, es gab keinen Kühlraum fürs Schlachtgut, alles war baufällig. Und die Gäste blieben bis morgens um halb vier hocken. Die Sperrstunde war noch nicht eingeführt.
Gut für die Gäste, anstrengend für die Bauern: Die Tiere im Stall wollten ja trotzdem in aller Früh versorgt sein. Als 1975 klar war, dass es die letzte heitere Zusammenkunft im alten Haus sein würde, „haben sie schon während der Muswiese Fensterläden abgerissen und Blutwurst an die Wände geschmiert“, erinnert. sich Uhl. Vielleicht war früher ja auch nicht immer alles besser...
Eines ist gewiss: Die Muswiese wird sich weiter ändern. Manchmal ist das schade, manchmal gut. Immer bleibt sie das Hohenloher Herzensfest. Sebastian Unbehauen