Altes und Neues auf der Muswiese 2022: Einem Sex-Skandal auf der Spur
Sonderveröffentlichung

MUSWIESE 2022 Altes und Neues auf der Muswiese 2022: Einem Sex-Skandal auf der Spur

Im Jahr 1931 erschüttert ein anonymes Schreiben über "anstößige Darbietungen"auf der Muswiese die Behörden.

Recht freizügig wurde auf der Muswiese des Jahres 1949 die Werbetrommel für den Taucher "Spandoni" gerührt. Im Jahr 1931 aber wurde der Jahrmarkt von einem handfesten Sex-Skandal erschüttert. FOTO: ARCHIV/SAMMLUNG KARL WALCH

08.10.2022

Wo viele Menschen zusammenkommen, menschelt es. Kein Wunder also, dass die unbändige Lebenslust auf der Muswiese seit Jahrhunderten fröhliche Urständ feiert - was in früheren Zeiten stets den Zorn von kirchlichen Würdenträgern erregte, die nicht müde wurden, den Verfall der Sitten im Schatten der Michaelskirche zu verteufeln. So heißt es anno 1839 in einem Protokoll des Kirchenbezirks: „Jungen und Mädchen singen unter betäubendem Vieltrinken wild schreyend höchst unsittliche Lieder - durch welches Alles und noch Weiteres, was man nicht aussprechen mag, wohlgesinnte und wohlgesittete Vorübergehende beleidigt und geärgert werden." 

Amors Pfeile fliegen

Die Zeiten haben sich geändert - und wenn im Jahr 2022 erstmals ein Dildo-Händler seine Modelle auf der Muswiese anbietet, dann löst das sicher keinen Aufschrei mehr aus.

Bis zum heutigen Tag zischen Amors Pfeile jedenfalls heftig durch die Budengassen und Wirtschaften, schon so manche Ehe wurde auf dem Hohenloher Nationalfest gestiftet. Auf einem gänzlich anderen Blatt steht das Rotlichtmilieu und die käufliche Liebe: Aus den Zeiten des Mittelalters sind zahlreiche Quellen überliefert, dass auch die Muswiese gewisse Damen magisch angezogen hat.

Am Musdorfer Himmel flattern aber schon lange keine Bordsteinschwalben mehr. Das höchste der Gefühle war da vor einigen Jahren noch ein Trupp mit „brasilianischen Sambatänzerinnen", die vom Auge des Gesetzes aber schnell durchschaut und ebenso schnell aus dem potenziellen Verkehr gezogen wurden.

Skandal ersten Ranges

Zu einem Sex-Skandal ersten Ranges kam es dagegen im Jahr 1931. Ein angeblich aus Wittmersklingen bei Bartenstein stammender Mann berichtete im Schutze der Anonymität über einen ungeheuerlichen Vorgang auf der Muswiese: In einer Schaubude seien nicht nur vier "vollständig nackte Mädchen" zusammen mit einem Herrn auf der Bühne gestanden - in der Aufführung sei auch "die Begattung von vorn und hinten gezeigt worden". Im "Schlussakt“ sei auch noch ein „Kopfstand mit gespreizten Beinen" zu sehen gewesen sein. Und die besagte Vorstellung sei von den „besseren Leuten fleißig besucht" worden.

Entrüstet wandte sich der Briefschreiber an Dr. Friedrich Häcker, der von 1926 bis 1933 für den Bauern- und Weingärtnerbund im Stuttgarter Parlament saß. Er solle sich dafür einsetzen, „dass so etwas sittlich Verkommenes nicht mehr gezeigt wird." Und tatsächlich brachte der Parlamentarier nur wenige Tage später mit einem Schreiben an das Innenministerium (,,Aus dem Oberamt Gerabronn erhalte ich diesen Brief, dessen Inhalt mir ganz unglaublich erscheint - ich wäre dankbar, wenn sofort nach der Sache gesehen würde") einen Stein ins Rollen, der die in helle Aufregung versetzten Behörden wochenlang beschäftigte. Erste Recherchen des Ministeriums ergaben, dass die besagte Schaubude einem Mann namens Johann Seewald aus Nürnberg gehörte, der zuvor schon auf dem Volksfest in Crailsheim gastiert hatte - ohne jegliche Anstände. Zur Sache wurde natürlich auch das Rathaus in Rot am See gehört. Empört wies der damalige Bürgermeister Gottlieb Kochendörfer die Behauptungen des Briefeschreibers zurück: Von Mitgliedern des Muswiesenfestausschusses, die „verschiedenen Vorstellungen des Unternehmens angewohnt haben, wurde glaubhaft versichert, dass die Angaben des Briefeschreibers in keiner Weise den Tatsachen entsprechen - die Darbietungen sollen in lebenden Bildern und Kunsttänzen bestanden haben, wobei nichts Anstößiges zu beobachten war." ,,Ganz besonders" sei von Augenzeugen versichert worden, dass in dem Unternehmen keine vollständig entkleideten Mädchen aufgetreten sind." Bürgermeister Kochendörfer wollte die Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen: „Wir behalten uns vor, gegen den Verfasser des Schriftstücks mit Rücksicht auf den guten Ruf unserer altehrwürdigen Muswiesenmesse gerichtlich vorzugehen."

Landjäger ermitteln

Das Innenministerium beauftragte zudem die Gerabronner Station des Württembergischen Landjägerkorps mit einer Untersuchung des Falles. Der Kommandant Weinmann, der sich mit vier weiteren Landjägern an allen Festtagen in Musdorf aufhielt, lieferte einen detaillierten Rapport nach Stuttgart - einschließlich einer genauen Beschreibung der namentlich genannten vier Mädchen und ihrer Textilien, die vom Oberlandjäger Lauer aus Leuzendorf stammte, der höchstselbst bei einer Vorstellung dabei war, die „harmlos und in keiner Weise gegen Sitte und Anstand verstoßen hat." Demnach trugen die „mit Schminke und Lippenstift wie Wachsfiguren hergerichteten" Mädchen außerhalb der Schaubude "orangegelbe und purpurrote Kleider, die die Brüste bis hinab auf die Knie bedeckten."

Bei der eigentlichen Aufführung in der Schaubude selbst ging es dann schon etwas freizügiger zu: Die von einem roten bengalischen Licht angestrahlten Mädchen trugen ,,eine Art Badehose und zur Bedeckung ihrer Brüste sogenannte Büstenhalter", schreibt der Chef der Gerabronner Landjäger. Er konnte sich auch nicht die Feststellung verkneifen, dass ,,die Besucher der Vorstellung alle sehr enttäuscht gewesen sind, denn ein Jeder habe nach den äußeren Aufmachungen geglaubt, etwas Anderes sehen zu können." Für den Schausteller jedenfalls lief die Muswiese 1931 nicht gut: Schon nach zwei Tagen baute er seine Zelte wieder ab. Und ein Regierungsrat des Innenministeriums in Stuttgart schloss die Akten zu den angeblich „anstößigen Darbietungen auf der Muswiesenmesse" mit dem Hinweis, dass es ,,nicht zu bezweifeln ist, dass der Briefschreiber einer Täuschung zum Opfer gefallen ist, sofern nicht angenommen werden muss, dass er nur böswillig verleumden wollte." Harald Zigan