Geschichten vorlesen im Schaukelstuhl
Dazu holt die Vorleserin einen alten Schaukelstuhl aus dem Keller und setzt zwei kleine Bären auf die Lehne. Stets sammeln sich die zuhörenden Kinder um die Rentnerin, die mit verstellter Stimme den beiden Bärenkindern eine echte Persönlichkeit gibt. Das Singen unter dem Baum fiel dieses Jahr leider bereits zum zweiten Mal aus. Aber bei der 68-Jährigen kommen viele Kinder in den Genuss, vorgelesen zu bekommen. Seit 35 Jahren liest die einstige Rechtsanwaltsgehilfin und Sekretärin den Kindern der Kirchener Grundschule vor. „Wenn die mir dann im Dorf über die Straße zurufen: ‚Wann kommsch wieder zum Vorlesen?‘, dann bin ich glücklich“, erzählt Rauschenberger.
Das Erfinden von Geschichten begann schon vor Jahrzehnten. Als das Mädchen Brigitte in Sonthofen auf die Realschule ging, schrieb sie kleine Stücke für ein Kasperletheater. Für ihre eigenen Kinder Heike und Florian erfand sie Geschichten zu Figuren, die sie aus der Kinderzimmertapete ausschnitt. So entstand auch ein kleines bebildertes Geschichtenbuch. Für ihr Pflegekind Konstantin, das heute noch als Erwachsener zu Besuch kommt, schrieb sie kleine Anekdoten mit Konstantin als Hauptperson. Dieses Geschichtenbüchlein bekam Konstantin dann zur Taufe. In Kirchen beziehen sich Brigitte Rauschenbergers Geschichten oft auf örtliche Gegebenheiten wie das Schneckenwegle, das den Kirchener Kindern durchaus ein Begriff ist. Die Bärenkinder Berti und Molly kommen gelegentlich auf diesem Weg heranspaziert.
Mit den kleinen Zuhörern durch Berg und Tal
Brigitte Rauschenberger kann ihrer Liebe zum Vorlesen beinahe jeden Tag frönen. Ab und zu ist ein Pflegekind in der Familie, das vom Kindergarten abgeholt oder dort hingebracht werden muss. Die Kirchenerin ist jederzeit für die Alltagslücken da, die bei berufstätigen Müttern mit kleinen Kindern gelegentlich auftreten. In diesen Pufferzeiten klappt Brigitte Rauschenberger Kinderbücher auf und wandert mit ihren kleinen Zuhörern durch Berg und Tal, und von Abenteuer zu Abenteuer.
Brigitte Rauschenbergers Vater starb bereits, als die Tochter erst acht Jahre alt war. „Es kommt mir aber vor, als hätte ich ihn viel länger gekannt“, sagt sie. Vor allem beim Erfinden von Geschichten und beim Vorlesen fühlt sie sich ihrem Vater ganz nahe. Vermutlich gefällt es dem Papa, was seine große Tochter so macht.
Christina Kirsch