
Vor kurzem stand ich in der heißen Mittagssonne auf dem Gelände von Delphi, hoch oben in den Bergen Mittelgriechenlands. Zwischen Steinterrassen und dem Duft von wildem Thymian betrachtete ich die Ruinen des Apollon-Tempels - und dachte an die vielen Menschen, die hier vor über zweitausend Jahren Rat suchten. Könige, Händler, Feldherren: Alle wollten sie vom Orakel wissen, was sie tun sollten. Welche Entscheidung die richtige war. Heute holen wir uns keine Antworten mehr von Priesterinnen in Trance, sondern von Beratern, Algorithmen oder - mal ehrlich - von unserem Bauchgefühl. Aber der Wunsch ist derselbe geblieben: Wie treffe ich eine gute Entscheidung? Ein Beispiel, das in Psychologie-Lehrbüchern weltweit zitiert wird, zeigt, wie schwer uns das fällt - selbst bei ganz einfachen Fragen: Linda ist 31 Jahre alt, ledig, klug. Sie hat Philosophie studiert, setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein, war auf Anti-Atomkraft-Demonstrationen und diskutiert über Kapitalismuskritik. Eine beeindruckende Frau.
Nun die Frage: Was ist wahrscheinlicher?
A) Linda ist Bankangestellte.
B) Linda ist Bankangestellte und in der feministischen Bewegung aktiv.
Die meisten Menschen entscheiden sich für B. Weil es besser klingt. Weil es zu Linda passt. Weil unser Bauch das sagt. Nur: Es ist falsch. Mathematisch betrachtet ist B eine Teilmenge von-A und kann daher niemals wahrscheinlicher sein. Das nennt man einen Konjunktionsfehler. Und der kommt häufiger vor, als uns lieb ist. In Vorstandsetagen. In Gerichtssälen. In Bewerbungsgesprächen. Wir überschätzen das Plausible und unterschätzen das Wahrscheinliche.
Noch interessanter wird es, wenn man sich fragt: Wann passieren solche Denkfehler besonders oft? Antwort: Am Nachmittag. Die Uhrzeit beeinflusst unsere Urteilsfähigkeit messbar, nachgewiesen, reproduzierbar. Der Bestsellerautor Dan Pink nennt das in seinem Buch „When - Der richtige Zeitpunkt“ das „Bermuda-Dreieck des Tages“ - die Stunden zwischen 14 und 16 Uhr, in denen unsere geistige Leistungsfähigkeit spürbar abnimmt. Was dort verschwindet, ist kein Flugzeug - sondern unser Fokus. Unsere Konzentration. Unser Denkvermögen.
Statistiken belegen: In dieser Zeit passieren Ärzten überdurchschnittlich viele Behandlungsfehler. Vorstandschefs sagen in Analystencalls Dinge, die sie später bereuen - mit unmittelbarem Einfluss auf den Aktienkurs. Schüler schreiben schlechtere Tests, Richter fällen härtere Urteile. Der tiefste Punkt liegt übrigens bei 14:55 Uhr. Das hat nichts mit Willensschwäche zu tun, sondern mit Biologie. Unser zirkadianer Rhythmus kennt drei Phasen: Ein Leistungshoch am Vormittag, einen Tiefpunkt am frühen Nachmittag und ein kreatives Comeback gegen Abend. Was tun? Dan Pink empfiehlt ein kurzes Nickerchen. Zehn bis zwanzig Minuten Schlaf genügen, um den Kopf wieder freizubekommen. Wer mag, trinkt vorher einen Kaffee - ein sogenannter Nappuccino. Das Koffein wirkt nach etwa 25 Minuten - genau dann, wenn man wieder aufwacht. NASA-Piloten schwören darauf.
Wer auf das Nickerchen verzichten muss, sollte zwischen 14 und 16 Uhr jedenfalls keine Verträge unterzeichnen, keine Vorstellungsgespräche führen und keine Strategie-Workshops leiten.Natürlich gilt das nicht für alle gleich. Rund ein Viertel der Menschen sind sogenannte Spättypen - bei ihnen beginnt der Tag später, dafür bleibt die geistige Klarheit bis spät in den Abend. Ihre Linda-Antwort um 21 Uhr ist besser als um 9 Uhr. Für sie gilt: Morgens Routine, nachmittags Planung, abends Strategie. Und damit wären wir wieder in Delphi. Dort, wo das Orakel einst seine Weissagungen sprach, steht noch heute in Stein gemeißelt der wohl wichtigste Rat der antiken Welt: „Gnothi seauton“ - Erkenne dich selbst. Wer weiß, wann der eigene Kopf klar ist - und wann nicht - trifft bessere Entscheidungen. Arbeitet sinnvoller. Und lebt entspannter. Denn der Unterschied zwischen klugen und schlechten Entscheidungen liegt oft nicht im Inhalt - sondern im Timing.

Zur Person
Prof. Dr. Martin Hörmann ist Partner und Geschäftsführer der Anchor Rechtsanwaltsgesellschaft mbH sowie Fachanwalt für Insolvenzund Sanierungsrecht und Wirtschaftsmediator.